„Sell in May and go away“: Fast jeder hat schon mal von dieser einprägsamen Börsenweisheit gehört. Aber stimmt sie wirklich? Wir stellen die alte Faust-Regel auf den Prüfstand.

Woher kommt die Mai-Regel?

Ein beliebtes englisches Börsen-Bonmot rät Anlegern, ihre Aktien im Mai zu verkaufen, um Kursverluste im Sommer zu vermeiden („Sell in May and go away“). Der zweite Teil besagt, im Herbst wieder am Aktienmarkt einzusteigen („But remember to come back in September“). Aber woher kommt diese Börsenweisheit überhaupt? Und ist es wirklich sinnvoll, sie zu befolgen?

Laut finanzen.net geht das Sprichwort auf die 1930er-Jahre zurück und stammt aus Großbritannien. Damals verließen viele wohlbetuchte Anleger in den heißen Sommermonaten die Hauptstadt London und fuhren raus aufs Land. Wohlgemerkt gab es damals noch kein Online-Banking. Man musste bei der Bank anrufen oder einen Brief schicken, um seine Order abzugeben. Bis die Aktie im Depot wanderten oder verkauft waren, konnten Tage vergehen. Einige Anleger verabschiedeten sich deshalb wohl lieber mit ihren eingestrichenen Renditen und Dividenden in den Sommerurlaub und stiegen erst im Herbst wieder ein. Daher die Regel: „Sell in May and Go away, but remember to come back in September“.

Was sagen Experten?

Die „Börsen-Zeitung“ hat die Mai-Regel geprüft und dafür den DAX über einen Zeitraum von 20 Jahren beobachtet. Das Ergebnis: Zwischen Mai und Oktober gab es in 9 der 20 Jahre eine negative Performance. Zwischen November und April war das nur in fünf Jahren der Fall. Es lässt sich also durchaus eine gewisse Saisonalität an der Börse beobachten. Die Sommermonate sind in der Regel schwächer als die Wintermonate.

Hier kommt das große Aber: Im Durchschnitt war die DAX-Performance über 20 Jahre hinweg auch zwischen Mai und Oktober positiv. Das bedeutet: Wer seine Aktien immer im Mai verkauft hat, hat letztlich Gewinne verpasst. Der Saisoneffekt, der vor 100 Jahren noch stark war, dürfte im 21. Jahrhundert keine große Rolle mehr spielen. Heute können Aktien mit einem Klick auf dem Smartphone jederzeit gekauft und verkauft werden, zugleich ist der Aktienhandel global und stark automatisiert.

Unterzieht man die Mai-Börsenweisheit einer historischen Überprüfung, ist ein statistisch signifikanter Zusammenhang nicht festzustellen„, schreibt Robert Halver, Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank. „Jede Anlagestrategie, die man in einem Reim zusammenfassen kann, ist wahrscheinlich eine schlechte Strategie„, sagte der Credit Suisse-Analyst Jonathan Golub gegenüber CNBC. Ihm zufolge sei zwar ein schwaches Muster zwischen Mai und Oktober zu erkennen, doch daraus lasse sich kein prinzipieller Grund für einen Rückzug aus dem Aktienmarkt ableiten. Der Experte betont, dass jedes Börsenjahr anders als das Vorjahr ist.

Beispiel 2020: Nach dem Corona-Crash im März stiegen die Börsenkurse von Mai bis Oktober wieder deutlich an, weil es nach den Lockdowns in vielen Ländern erste Lockerungen gab und sich die Weltwirtschaft erholte. Wer die Mai-Börsenweisheit befolgt hättte, hätte damals eine günstige Gelegenheit für den Einstieg in den Aktienmarkt und damit großes Renditepotenzial verpasst.

Wie sieht es 2021 mit der Mai-Regeln aus?

Auch in diesem Jahr bezweifeln Experten, dass die Börsenweisheit „Sell in May“ zutrifft. Weil die dritte Corona-Welle in vielen westlichen Ländern gebrochen scheint und die Impfkampagne ihre Wirkung zeigt, werden die Regierungen im Sommer wahrscheinlich Lockerungen beschließen. Dadurch werden zum Beispiel Reisen wieder vermehrt möglich sein. Davon dürfte die Luftfahrt- und Tourismusbranche enorm profitieren. Ohnehin gibt es laut Experten in Folge der Pandemie einen enormen Konsumstau. Anders gesagt: Viele Menschen wollen angespartes Geld gerne für Urlaube oder größere Anschaffungen ausgeben. All das könnte die Börsen im Sommer beflügeln – und die berüchtigte Mai-Regeln wieder einmal widerlegen.