Gelangen wir an das Ende des Wachstums? Viele Volkswirtschaften haben damit zu kämpfen, dass die Wirtschaft kaum noch wächst oder wenn, dann nur unter großen Mühen. Zudem sorgt die Corona-Krise nun dafür, dass die BIPs auf dieser Welt massiv einbrechen werden. Wie geht es nun also weiter? Verlieren wir alle Wohlstand? Aufschluss darüber kann das sogenannte Potentialwachstum geben. Aber was ist das?
Was ist das Potential-Wachstum?
Dazu erklärt Dr. Ulrich Stephan, Chefanlagestratege für Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank: „Hier gibt es unterschiedliche Definitionen, aber einfach ausgedrückt handelt es sich um eine Art Trendwachstum, dass nicht zu Überhitzung beziehungsweise Inflation führt. Gemeint ist also das durch Arbeit, den Kapitalstock und den technischen Fortschritt determinierte langfristige Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft.“
Das Potentialwachstum – auch Produktionspotential genannt – zeigt also, wie viel eine Volkswirtschaft überhaupt wachsen könnte. Die Faktoren dafür sind natürlich die mögliche Arbeitsleistung der Bevölkerung, das vorhandene Kapital und der technische Fortschritt. Aber wie sieht das Potentialwachstum für Deutschland aus?
Aktuelle Zahlen bringt das Bundesministerium für Wirtschaft in der Frühjahrsproduktion 2019. Dort sind auch Schätzungen bis 2023 enthalten. Die Experten gehen davon aus, dass das Produktionspotential in den kommenden Jahren nur noch rund ein Prozent pro Jahr betragen wird.

In der Grafik sehen wir, dass das Brutto-Inlands-Produkt (BIP) sich immer um das Potentialwachstum herum bewegt. Dazu sagt auch Dr. Ulrich Stephan: „Die Konjunktur oszilliert um diesen Trend und kann mit geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen befeuert werden.“
Und die folgende Tabelle zeigt die konkreten Schätzungen des Bundesministeriums für Wirtschaft für die Jahre bis 2023.
Jahr | Potentialwachstum in Mrd. Euro | %-Veränderung gegenüber Vorjahr | BIP in Mrd. Euro | %-Veränderung gegenüber Vorjahr |
2019 | 2986,6 | 1,4 | 2989,5 | 0,5 |
2020 | 3029 | 1,4 | 3034,3 | 1,5 |
2021 | 3070,2 | 1,4 | 3069,9 | 1,2 |
2022 | 3107,3 | 1,2 | 3105,9 | 1,2 |
2023 | 3142,3 | 1,1 | 3142,3 | 1,2 |
Aber was bedeutet dieses Potentialwachstum jetzt für uns? Was kann man daraus lernen? Und wie hilft es bei Anlageentscheidungen?
BIP und Potentialwachstum im Vergleich
Zunächst einmal stellen wir noch den Unterschied zwischen dem BIP und dem Potentialwachstum fest. Das Bruttoinlandsprodukt umfasst alle Produkte und Dienstleistungen, die innerhalb einen Jahres in einem Land als Endprodukt hergestellt werden, abzüglich der Vorleistungen. Das BIP gibt also an, wie produktiv ein Land ist. Das BIP stellt also den Wert dar, den die Wirtschaft wirklich hatte und das Potentialwachstum zeigt an, wie viel die Volkswirtschaft im Stande wäre zu leisten.
Dazu erklärt Dr. Ulrich Stephan: „Ich glaube, dass die langfristige Entwicklung einer Volkswirtschaft die eigentlich wichtige ist. Ich kann aber auch verstehen, dass die Bevölkerung und die Politik eher in kurzfristigeren Zeiträumen denken. Es macht ja auch einen großen Unterschied, ob wir uns im Boom oder wie jetzt in der Rezession befinden. Das langfristige Potenzialwachstum sollte aber nicht vernachlässigt, sondern durch Investitionen und ein innovationsfreundliches Wirtschaftsumfeld unterstützt werden.“
Das scheint wichtig. Denn wenn das Potentialwachstum nicht mehr zulegt, dürfte auch das BIP nicht mehr zulegen. Wir sahen ja in der Grafik seit 1980, dass sich das BIP immer um das Potentialwachstum herum bewegt. Stagniert das Potentialwachstum oder nimmt sogar ab, so dürfte auch das BIP stagnieren und abnehmen. Aber warum sollte das wichtig sein?
Warum ist das Potentialwachstum so wichtig?
Schauen wir uns mal das Beispiel Japan an. Ab den 1970er Jahren erlebte Japan einen beispiellosen Boom. Das Land wuchs rasant, war technologisch hochentwickelt und war die größte Volkswirtschaft der Welt. Im Jahr 1995 betrug das BIP in Japan 5,45 Billionen US-Dollar. Der japanische Aktienindex Nikkei stand bei ungefähr 20.000 Punkten. Und was passierte seitdem? Stagnation. In 2018 betrug Japans BIP nur noch 4,97 Billionen US-Dollar und der NIkkei steht in 2020 wiederum ungefähr wieder nur bei 20.000 Punkten. Das BIP hat augenscheinlich auch Einfluss auf den Aktienmarkt. Denn wenn weniger hergestellt wird, verdienen die Unternehmen vermutlich weniger und die Aktienkurse dürften weniger anziehen. Und weil das Wachstum in der westlichen Welt nachlässt, kommt hier wieder das Potentialwachstum ins Spiel.
„Meiner Meinung nach gibt es wohl nur eine Möglichkeit, die Welt auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückzuführen: die Steigerung des technischen Fortschritts, also der Produktivität“ findet Dr. Ulrich Stephan. Und er geht davon aus, dass die Digitalisierung in Zukunft zu mehr Produktivitätssteigerungen führen wird. „Einige wichtige Voraussetzungen dafür scheinen bereits gegeben: Zum einen sind die zugrunde liegenden Technologien günstiger geworden, sodass sich ihr Einsatz schneller amortisiert und Unternehmen eher das notwendige Investitionsrisiko eingehen dürften. Zum anderen sind viele Innovationen in den Vorreiterfirmen bereits erfolgreich in die Wertschöpfungsketten eingebunden, wodurch mittlerweile ein Know-how-Transfer stattfinden kann“, führt der Chefanlagestratege weiter aus. Schließlich dürfte der Wettbewerbsdruck auf Unternehmen zunehmen. „Um ihre Geschäftsgrundlage nicht zu verlieren, sind sie schlichtweg gezwungen, die neuen Technologien zukünftig stärker in ihre Prozesse zu integrieren.“
Das Potentialwachstum zeigt also, wie stark eine Volkswirtschaft wachsen kann. Die Faktoren Arbeit, Kapital und Technologie sind dabei wichtig. Spannend ist das nicht nur für die Börse sondern auch für Arbeitnehmer: Wenn die Technologie stark wächst, könnte weniger Arbeitszeit nötig sein. Das war schon in der Vergangenheit zu beobachten. Laut Destatis betrug die wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland 1991 genau 38,4 Stunden. In 2018 waren es dann nur noch 34,9 Stunden. Und trotzdem hat das BIP zugelegt.